Er war es aber nicht. Mein Tiefpunkt war das erkennen, dass meine Wahrheit, mein ganzes Wertesystem eine einzige Lüge war. Meine Wahrheiten waren nur für mich Wahrheiten, die auf einmal zerfielen. Nach und nach. Das war so nach etwa 4- 6 Monaten trocken Seins. Ich habe mich derart grässlich meiner Umwelt gegenüber präsentiert, als ich noch soff und in den ersten Monaten der Trockenheit. Keiner hier hätte mich nett gefunden, wenn er mich in meinem damaligen Onlinemeeting erlebt hätte. Auch bei Familie, Freunden, auf Arbeit aber vor allem meiner Frau gegenüber. Was empfand ich für sie noch? So langsam kamen Dinge in meinem Kopf an. Ich redete mit meiner Frau wieder regelmäßig. Ich musste es neu lernen. Ich habe sie immer für zu dumm gehalten, als ich noch soff. Als ich aufhörte, klammerte ich mich auch an sie. Ich hatte Angst davor, wie es weitergeht.
Bei einem Gespräch mit ihr, erzählte sie mir eine Geschichte, welche sich zugetragen hatte, als ich noch soff und wie verletzt sie damals war und nicht mehr wußte, was sie jetzt tun soll. Soll sie gehen oder bleiben. Ich hatte diese Geschichte komplett verdrängt und jetzt kam sie hoch und ich konnte erstmals ehrlich in mich schauen, konnte Gefühle zu lassen, welche ich schon so lange nicht mehr hatte. Ich heulte und konnte gar nicht mehr aufhören. Das nahm auch meine Frau sehr mit. Es war ein Knoten geplatzt in mir. Die Wochen danach war ein aufarbeiten mit meiner Frau. Ganz oft habe ich gedacht, wie schaffst sie es nur, bei mir zu bleiben. Ich war so ein Arsch, so ein Idiot zu ihr. Für sie war es ganz einfach, sie liebte mich. Mir ging es ähnlich, ich sah nach Jahren wieder das was sie wirklich ist, wie sie ist. All die Dinge, weswegen ich mich damals in sie verliebt hatte. Ich liebte diese Frau, ganz klar. Ich bekam die Chance, es anders zu machen. Meine Frau gab mir diese Chance.
Es gab aber noch andere
Baustellen. Kann ich mein altes Wertesystem so einfach über
Bord werfen? Kann ich mich auf etwas Neues, Unbekanntes
einlassen? Mich auf ein Terrain begeben, in dem ich nicht die
Kontrolle habe? Will ich das auch? Ich saufe doch nicht mehr,
reicht das nicht?
Ich ahnte damals, dass ich es auf
Dauer nicht durchhalte. Zu viel war schon wieder in mir, dass
den Gedanken an die Flasche nährte. Ich hatte früher schon
viele Trinkpausen gemacht, mit der Meinung "Nie wieder". Alles
für'n Arsch. Ich wusste aus eigener Erfahrung, wo das wieder
hinführt. Das wollte ich doch so nicht. Aber wie soll es denn
gehen? Drehtür, für immer? Das Zusammenbrechen meiner
Wahrheiten. Eins kam zum anderen. Was hatte ich zu
verlieren?
Ganz vorsichtig lugte ich hinter
meiner Wand vor, ganz vorsichtig öffnete ich mich und ließ
Dinge auf mich wirken, die mir so unbekannt waren. Ich ließ
Menschen in mein Leben, die ich früher rundweg abgelehnt hätte.
Ich fasste Vertrauen. Ich begann meine Einstellung zu
verschiedenen Dingen im Leben zu überdenken. Viele qualvolle
Erinnerungen, welche mich erschreckten. Was war ich für ein
Mensch?
Ich war angekommen. Bereit.
Bereit für mein erstes reales AA-Meeting. Bereit, für das
Programm von AA.
In meiner Selbsterkenntnis merkte
ich, dass ich nicht mehr tiefer fallen konnte. Alle Auswege
verstellt. Alle Lügen entlarvt. Nur ein kompletter Ignorant
hätte wie bisher weitermachen können. Ich konnte es nicht. Ich
habe mich entschieden, diesen neuen Weg zu gehen. Der Weg ist
noch lange Zeit nicht zu Ende. Denn dieses Programm ist eine
Lebensphilosophie. Sekte? Von mir aus. Aber diese Sekte hat mir
mein Leben erst mal wieder gegeben und es dann auf eine völlig
neue Qualität gestellt. Das ist mein Weg und er wird mich
begleiten. Meine Erfahrung ist, dass ich nur trocken bleiben
kann, wenn ich mein bisheriges Leben überdenke und bereit bin,
Dinge zu ändern, die ich halt ändern kann, wenn ich bereit bin
zu akzeptieren. Aber zu allererst musste ich lernen absolut
ehrlich zu mir selbst zu sein. Es dauerte eine Weile, bis ich
Fehler zu geben konnte, nicht nur mir selbst gegenüber, auch
anderen. Auch heute fällt es mir nicht immer leicht.
Ich bin neugierig auf das Leben,
eigentlich mittlerweile viel öfter positiv gestimmt als
negativ. Ich will ein zufriedenes trockenes Leben führen. Dafür
muss ich auch bereit sein, unbequeme Dinge
anzugehen.
Ich liebe es mit Menschen
umzugehen. Es gibt so viele unterschiedliche Menschen,
Gedanken, Ideen usw. Heute finde ich das toll. Früher habe ich
über solche Personen höchstens gelästert oder sie als bekloppt
eingestuft.
Durch das Programm, die 12
Schritte von AA habe ich viel über mich gelernt, über mein
Verhalten der Umwelt gegenüber. Wenn ich über meinen Kampf mit
oder gegen meine höhere Macht nachdenke, muss ich heute etwas
schmunzeln. Es ist aber ein tiefes, glückliches Schmunzeln, wie
das liebevolle Schmunzeln über ein bockiges Kind.
Ich bin froh zu AA gefunden zu
haben. Ich bin AA dankbar dafür, eine tiefe Dankbarkeit , dass
AA und meine hier gefundene höhere Macht mich auf diesen Weg
geführt hat und mich dieses neue Leben erleben
lässt.
Das ist die Bestandaufnahme von
mir, vom Anfang meiner Trinkerei, bis heute. Wenn ich heute
zurückdenke, war die Zeit als ich mit 14, 15, 16 meine ersten
Räusche erlebte, auch der Beginn meiner Saufzeit. Ich weiß es,
weil ich damals schon dieses erhebende Gefühl erlebte, welches
mir bessere Gefühle, Gedanken bescherte. Mit Alkohol war ich
wer. Das begleitete mich bis zum Ende des Saufens, fast 30
Jahre.
Sylvio, Alkoholiker