Onlinemeeting der Anonymen Alkoholiker

Ich bin Sylvio, Alkoholiker - Seite 6


Er war es aber nicht. Mein Tiefpunkt war das erkennen, dass meine Wahrheit, mein ganzes Wertesystem eine einzige Lüge war. Meine Wahrheiten waren nur für mich Wahrheiten, die auf einmal zerfielen. Nach und nach. Das war so nach etwa 4- 6 Monaten trocken Seins. Ich habe mich derart grässlich meiner Umwelt gegenüber präsentiert, als ich noch soff und in den ersten Monaten der Trockenheit. Keiner hier hätte mich nett gefunden, wenn er mich in meinem damaligen Onlinemeeting erlebt hätte. Auch bei Familie, Freunden, auf Arbeit aber vor allem meiner Frau gegenüber. Was empfand ich für sie noch? So langsam kamen Dinge in meinem Kopf an. Ich redete mit meiner Frau wieder regelmäßig. Ich musste es neu lernen. Ich habe sie immer für zu dumm gehalten, als ich noch soff. Als ich aufhörte, klammerte ich mich auch an sie. Ich hatte Angst davor, wie es weitergeht.

Bei einem Gespräch mit ihr, erzählte sie mir eine Geschichte, welche sich zugetragen hatte, als ich noch soff und wie verletzt sie damals war und nicht mehr wußte, was sie jetzt tun soll. Soll sie gehen oder bleiben. Ich hatte diese Geschichte komplett verdrängt und jetzt kam sie hoch und ich konnte erstmals ehrlich in mich schauen, konnte Gefühle zu lassen, welche ich schon so lange nicht mehr hatte. Ich heulte und konnte gar nicht mehr aufhören. Das nahm auch meine Frau sehr mit. Es war ein Knoten geplatzt in mir. Die Wochen danach war ein aufarbeiten mit meiner Frau. Ganz oft habe ich gedacht, wie schaffst sie es nur, bei mir zu bleiben. Ich war so ein Arsch, so ein Idiot zu ihr. Für sie war es ganz einfach, sie liebte mich. Mir ging es ähnlich, ich sah nach Jahren wieder das was sie wirklich ist, wie sie ist. All die Dinge, weswegen ich mich damals in sie verliebt hatte. Ich liebte diese Frau, ganz klar. Ich bekam die Chance, es anders zu machen. Meine Frau gab mir diese Chance.

Es gab aber noch andere Baustellen. Kann ich mein altes Wertesystem so einfach über Bord werfen? Kann ich mich auf etwas Neues, Unbekanntes einlassen? Mich auf ein Terrain begeben, in dem ich nicht die Kontrolle habe? Will ich das auch? Ich saufe doch nicht mehr, reicht das nicht?
Ich ahnte damals, dass ich es auf Dauer nicht durchhalte. Zu viel war schon wieder in mir, dass den Gedanken an die Flasche nährte. Ich hatte früher schon viele Trinkpausen gemacht, mit der Meinung "Nie wieder". Alles für'n Arsch. Ich wusste aus eigener Erfahrung, wo das wieder hinführt. Das wollte ich doch so nicht. Aber wie soll es denn gehen? Drehtür, für immer? Das Zusammenbrechen meiner Wahrheiten. Eins kam zum anderen. Was hatte ich zu verlieren?
Ganz vorsichtig lugte ich hinter meiner Wand vor, ganz vorsichtig öffnete ich mich und ließ Dinge auf mich wirken, die mir so unbekannt waren. Ich ließ Menschen in mein Leben, die ich früher rundweg abgelehnt hätte. Ich fasste Vertrauen. Ich begann meine Einstellung zu verschiedenen Dingen im Leben zu überdenken. Viele qualvolle Erinnerungen, welche mich erschreckten. Was war ich für ein Mensch?

Ich war angekommen. Bereit. Bereit für mein erstes reales AA-Meeting. Bereit, für das Programm von AA.
In meiner Selbsterkenntnis merkte ich, dass ich nicht mehr tiefer fallen konnte. Alle Auswege verstellt. Alle Lügen entlarvt. Nur ein kompletter Ignorant hätte wie bisher weitermachen können. Ich konnte es nicht. Ich habe mich entschieden, diesen neuen Weg zu gehen. Der Weg ist noch lange Zeit nicht zu Ende. Denn dieses Programm ist eine Lebensphilosophie. Sekte? Von mir aus. Aber diese Sekte hat mir mein Leben erst mal wieder gegeben und es dann auf eine völlig neue Qualität gestellt. Das ist mein Weg und er wird mich begleiten. Meine Erfahrung ist, dass ich nur trocken bleiben kann, wenn ich mein bisheriges Leben überdenke und bereit bin, Dinge zu ändern, die ich halt ändern kann, wenn ich bereit bin zu akzeptieren. Aber zu allererst musste ich lernen absolut ehrlich zu mir selbst zu sein. Es dauerte eine Weile, bis ich Fehler zu geben konnte, nicht nur mir selbst gegenüber, auch anderen. Auch heute fällt es mir nicht immer leicht.

Ich bin neugierig auf das Leben, eigentlich mittlerweile viel öfter positiv gestimmt als negativ. Ich will ein zufriedenes trockenes Leben führen. Dafür muss ich auch bereit sein, unbequeme Dinge anzugehen.
Ich liebe es mit Menschen umzugehen. Es gibt so viele unterschiedliche Menschen, Gedanken, Ideen usw. Heute finde ich das toll. Früher habe ich über solche Personen höchstens gelästert oder sie als bekloppt eingestuft.
Durch das Programm, die 12 Schritte von AA habe ich viel über mich gelernt, über mein Verhalten der Umwelt gegenüber. Wenn ich über meinen Kampf mit oder gegen meine höhere Macht nachdenke, muss ich heute etwas schmunzeln. Es ist aber ein tiefes, glückliches Schmunzeln, wie das liebevolle Schmunzeln über ein bockiges Kind.
Ich bin froh zu AA gefunden zu haben. Ich bin AA dankbar dafür, eine tiefe Dankbarkeit , dass AA und meine hier gefundene höhere Macht mich auf diesen Weg geführt hat und mich dieses neue Leben erleben lässt.

Das ist die Bestandaufnahme von mir, vom Anfang meiner Trinkerei, bis heute. Wenn ich heute zurückdenke, war die Zeit als ich mit 14, 15, 16 meine ersten Räusche erlebte, auch der Beginn meiner Saufzeit. Ich weiß es, weil ich damals schon dieses erhebende Gefühl erlebte, welches mir bessere Gefühle, Gedanken bescherte. Mit Alkohol war ich wer. Das begleitete mich bis zum Ende des Saufens, fast 30 Jahre.

Sylvio, Alkoholiker