Onlinemeeting der Anonymen Alkoholiker

Hallo! Schön, dass Du da bist Seite 3

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"So eine tolle Mutti hätte ich auch gerne gehabt." Schweigen.
"Doch wieso hast du genau diese Worte vorhin zu mir gesagt?"
"Na ja, ich fragte meine Mutti einmal, warum die Menschen so ernst und so traurig schauen. Meine Mutti meinte zuerst nur, sie hätten vielleicht keinen Spiegel. Doch dann erklärte sie mir, dass die meisten Menschen sich morgens nicht darüber freuen, in den Spiegel zu schauen. Sie kritisieren ihre Haare, ihr Aussehen und meckern über das Leben."
Melissa spürte einen Kloß im Hals. "Und da kam ich halt auf die Idee, allen Menschen, denen ich begegne, zu sagen, dass es schön ist, dass sie da sind. Und du wirst es nicht glauben, die meisten hören dann auf, traurig oder ernst zu schauen und lächeln sogar ganz oft."
"Du hast eine wirklich tolle Mami, weißt du das?" Die Kleine nickte mit dem Kopf, ein Strahlen ging über ihr zartes Gesicht. "Meine Mami ist schon toll, aber sie lebt nicht mehr."
Melissa spürte die Hitze der ersten Tränen, die sich trotz großer Anstrengung in ihren Augenwinkeln sammelten. Da war da so ein liebenswertes Mädchen, das solch eine Lebensfreude und Heiterkeit ausstrahlte, obwohl das Leben ihr die Mutti genommen hatte. Melissa schämte sich in Grund und Boden.
Die Kleine nahm ihre Hand - war sie wirklich erst acht Jahre alt? - und sah sie mit ihren großen braunen Augen an.

"Ich habe ja noch meine Papa und der ist ganz lieb. Du kannst gern einmal zu uns kommen, dann bekommst du auch einen schönen Spiegel geschenkt. Mein Papa schenkt allen unseren Gästen einen Spiegel. Er tut das wegen Mama. Er sagt, mit jedem Spiegel, den er verschenkt, verhilft er einem Menschen zu einem besseren Leben und in diesem Menschen lebt Mama dann ein bisschen weiter."
Sie sagte dass mit solcher Begeisterung und Überzeugung, dass es Melissa fast das Herz zerriss.
"Wie heißt du eigentlich?"
"Anne, und du?"
"Melissa und ich komme dich gerne einmal besuchen, sehr gern, ich gebe dir meine Karte, dann kann dein Papa mich ja einmal anrufen."
"Oh ja, das ist schön. Ich muss jetzt los. Also bis dann." Melissa gab der Kleinen ihr eiligst heraus gekramtes Kärtchen in die Hand und sah ihr noch lange nach. Sehr, sehr lange - selbst als sie nicht mehr zu sehen war.
An diesem Tag ging Melissa nicht mehr zur Arbeit, sie hatte noch etwas zu erledigen. Sie kaufte sich einen wunderschönen Taschenspiegel in edlem Design und zu einem nicht alltäglichen Preis. Jeden Morgen gleich nach dem Erwachen und jeden Abend direkt vor dem Schlafengehen lächelte sie ab jetzt in den Spiegel und sagte zu sich selbst:
"Schön, dass Du da bist."

Seit jenem Tag sind einige Monate vergangen und es hat sich viel verändert in Melissas Leben. Zufriedenheit und Glücksmomente sind immer öfter zu ihren Begleitern geworden. Sie macht eine berufliche Umschulung, hat sich einem Lauftreff angeschlossen und besucht regelmäßig Anne und ihren Papa, der ihr jedes Mal etwas Neues über das Geheimnis aufbauender Worte erzählt.
Ja..., und wann hast Du das letzte Mal in den Spiegel geschaut und dich darüber gefreut, dass Du da bist?