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"So eine tolle Mutti hätte ich
auch gerne gehabt." Schweigen.
"Doch wieso hast du genau diese
Worte vorhin zu mir gesagt?"
"Na ja, ich fragte meine Mutti
einmal, warum die Menschen so ernst und so traurig schauen.
Meine Mutti meinte zuerst nur, sie hätten vielleicht keinen
Spiegel. Doch dann erklärte sie mir, dass die meisten Menschen
sich morgens nicht darüber freuen, in den Spiegel zu schauen.
Sie kritisieren ihre Haare, ihr Aussehen und meckern über das
Leben."
Melissa spürte einen Kloß im
Hals. "Und da kam ich halt auf die Idee, allen Menschen, denen
ich begegne, zu sagen, dass es schön ist, dass sie da sind. Und
du wirst es nicht glauben, die meisten hören dann auf, traurig
oder ernst zu schauen und lächeln sogar ganz oft."
"Du hast eine wirklich tolle
Mami, weißt du das?" Die Kleine nickte mit dem Kopf, ein
Strahlen ging über ihr zartes Gesicht. "Meine Mami ist schon
toll, aber sie lebt nicht mehr."
Melissa spürte die Hitze der
ersten Tränen, die sich trotz großer Anstrengung in ihren
Augenwinkeln sammelten. Da war da so ein liebenswertes Mädchen,
das solch eine Lebensfreude und Heiterkeit ausstrahlte, obwohl
das Leben ihr die Mutti genommen hatte. Melissa schämte sich in
Grund und Boden.
Die Kleine nahm ihre Hand - war
sie wirklich erst acht Jahre alt? - und sah sie mit ihren
großen braunen Augen an.
"Ich habe ja noch meine Papa und
der ist ganz lieb. Du kannst gern einmal zu uns kommen, dann
bekommst du auch einen schönen Spiegel geschenkt. Mein Papa
schenkt allen unseren Gästen einen Spiegel. Er tut das wegen
Mama. Er sagt, mit jedem Spiegel, den er verschenkt, verhilft
er einem Menschen zu einem besseren Leben und in diesem
Menschen lebt Mama dann ein bisschen weiter."
Sie sagte dass mit solcher
Begeisterung und Überzeugung, dass es Melissa fast das Herz
zerriss.
"Wie heißt du
eigentlich?"
"Anne, und du?"
"Melissa und ich komme dich gerne
einmal besuchen, sehr gern, ich gebe dir meine Karte, dann kann
dein Papa mich ja einmal anrufen."
"Oh ja, das ist schön. Ich muss
jetzt los. Also bis dann." Melissa gab der Kleinen ihr eiligst
heraus gekramtes Kärtchen in die Hand und sah ihr noch lange
nach. Sehr, sehr lange - selbst als sie nicht mehr zu sehen
war.
An diesem Tag ging Melissa nicht
mehr zur Arbeit, sie hatte noch etwas zu erledigen. Sie kaufte
sich einen wunderschönen Taschenspiegel in edlem Design und zu
einem nicht alltäglichen Preis. Jeden Morgen gleich nach dem
Erwachen und jeden Abend direkt vor dem Schlafengehen lächelte
sie ab jetzt in den Spiegel und sagte zu sich
selbst:
"Schön, dass Du da bist."
Seit jenem Tag sind einige Monate
vergangen und es hat sich viel verändert in Melissas Leben.
Zufriedenheit und Glücksmomente sind immer öfter zu ihren
Begleitern geworden. Sie macht eine berufliche Umschulung, hat
sich einem Lauftreff angeschlossen und besucht regelmäßig Anne
und ihren Papa, der ihr jedes Mal etwas Neues über das
Geheimnis aufbauender Worte erzählt.
Ja..., und wann hast Du das
letzte Mal in den Spiegel geschaut und dich darüber gefreut,
dass Du da bist?