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Die Steinpalme


Die Steinpalme

Eines Tages kam ein Brief. Eine Leserin schickte mir den handgeschriebenen Text einer Legende aus der Sahara. Es ist eine dieser Geschichten, wie sie oft in arabischen Ländern abends an den Feuern erzählt werden. Jeder kennt sie, jeder erzählt sie irgendwann einmal weiter. Auf dem Boden dieser Legende entstand folgendes Märchen:

Es war Spätnachmittag, und es war ein Wind aufgekommen, der leise über die Haare streicht und auf dem Gesicht eine Ahnung von Kühle hinterlässt.
Es war die Zeit, die zum Erzählen verführt, ja, die Lust auf Märchen wurde so zwingend, dass alle den weisen Raman baten, doch eine seiner wundervollen Geschichten zu erzählen.
Der kluge alte Mann lächelte. Er überlegte einen Augenblick und rief dann: "Wir treffen uns an der Steinpalme, wenn die Feuer angezündet werden!" "Steinpalme? Was bedeutet das ?" riefen sie hinter dem Alten her. " Sucht sie!" Er sagte dies schon im Fortgehen. "Sucht sie! Der Baum ist nicht zu verfehlen."

Noch ehe die Nacht plötzlich hereinfiel, hatten sie den Baum gefunden. Neben den vielen Palmen am Strand, die in ihrer schlanken Schönheit wie winkende Frauen zu sein schienen, stand diese eine etwas abseits, doch so, dass ihre starken, dunkelgrünen Blattfächer die neben ihr stehenden Bäume leicht berührten. Es war eine eigenartig geformte Palme!
Sie wirkte gedrungen, mit einem mächtigen Stamm und starken Fächern, die in ihren Bewegungen sichtbare Mässigung zeigten und nichts von der Heiterkeit hatten, die alle anderen Palmen so weiblich machte.

 

Das Merkwürdigste aber war die Krone der Palme! Der Baum neigte sich mit seinen Blattfächern zur Mitte hin.
"Seht nur genau hin", sagte der alte Erzähler, der sich in ihre Mitte gesetzt hatte, "achtet auf das nächste Wehen des Windes." Und sie konnten es sehen!
Als der Wind die Fächer der Bäume etwas auseinander wehte, da sahen sie es: Im Herzen der Palme, dort, wo sonst die neuen, hellgrünen Triebe aus der Mitte des Stammes nach oben drängten, lag ein mächtiger, rötlicher Stein, ein Stein, wie unzählige am Strand herumlagen.
Raman liess keine Zeit zum Fragen. Mit einer weiten Armbewegung zeigte er, dass sich alle im Kreis setzen sollen. Ein Feuer wurde in der Mitte angezündet, und die Nacht kam schnell und fiel über alles wie ein dunkles Tuch.
Der Schein des Feuers erreichte den Stamm der grossen Palme und malte auf den Schuppen bizarre Zeichen. Wenn eine Flamme hell aufflackerte, konnte man die Krone des mächtigen Baumes ahnen.
"Ihr wollt wissen, wie der grosse Stein dort oben hinaufgekommen ist?"
begann Raman seine Erzaehlung. "Nun, dies geschah vor vielen, vielen Jahren, als diese mächtige Palme noch ein winziger Bäumling war. Hier waren damals noch keine Häuser und es gab auch noch keinen Brunnen. Nur ein paar Palmen standen am Strand. Ihnen und dem kleinen Palmbaum genügte das, was sie aus dem Sandboden an Nahrung und vom Himmel an Feuchtigkeit bekamen.